Das heutige Pfarrhaus in der Harzstraße 69a (früher Hauptstraße) wurde in den Jahren 1912–1913 auf dem Gelände des
ehemals zwischen Harzstraße (B4) und den Schienen der Harzquerbahn gelegenen alten Friedhofes errichtet, vis-a-vis zur
alten Pfarre. Der zugehörige Pfarrgarten ist das einzig verbliebene unbebaute Areal dieses Friedhofes. Da für den Friedhof
ursprünglich keine Grundstücksnummer vergeben war, erhielt das Pfarrhaus die Nummer 69a.
Die Entscheidung zum Neubau eines Pfarrhauses auf dem alten Friedhof wurde 1910 getroffen. Den Auftrag zur Ausarbeitung
von Bauplänen, denen Vorentwürfe der Regierung in Hildesheim zugrunde gelegt waren, erhielt der Architekt Wilhelm Morgenstern
aus Nordhausen. Sein erster fertig ausgearbeiteter Entwurf (Abb. 2) entsprach offensichtlich nicht den Vorstellungen des
Kirchenvorstandes von Niedersachswerfen, denn die Abteilung Kirchen- und Schulwesen bei der Königlichen Regierung in
Hildesheim sah sich per Schreiben vom 14. Juli 1911 an das Konsistorium in Ilfeld zu folgender Stellungnahme veranlasst:
»Der Ansicht des Kirchenvorstandes, daß das ministerielle Projekt die Ortschaft verunzieren würde, können wir nicht beitreten. Niedersachswerfen hat keine ausgesprochene Architektur. Die Häuser sind ein- und zweistöckige Fachwerkbauten meist unter Pfannendach. [...] Es ist durchaus erwünscht, daß das neue Pfarrhaus in einfachen modernen Formen gehalten wird, damit die Einwohner von Niedersachswerfen von ihm lernen können, wie mit einem verhältnismäßig geringen Aufwande von Mitteln geschmackvoll gebaut werden kann.« [1]
Schließlich gelangte ein sehr schlichter, aber großzügiger Bau zur Ausführung:
»Nach Ueberwindung mancher Schwierigkeiten geht endlich der schon im März 1910 beschlossene Pfarrneubau auf dem alten Friedhof seiner Vollendung entgegen. Der Bau wird nach einem in schlichten, niederdeutschen Formen gehaltenen Entwurf, der im Kultusministerium ausgearbeitet ist, unter Leitung des Architekten Morgenstern in Nordhausen ausgeführt. Nachdem am 16. Juni der erste Spatenstich getan, sind die Arbeiten durch den Maurermeister Schild in Woffleben so gefördert worden, daß genau zwei Monate später, am 16. August, der hiesige Zimmermeister Paul Steinmetz das Dach richten konnte.« [2]
»Das traulich hinter der alten Friedhofsmauer liegende und freundlich durch die mächtigen Kastanien schimmernde
neue Pfarrhaus ist nun am 15. Juni, genau ein Jahr, nachdem der erste Spatenstich getan wurde, vom Architekten Morgenstern
aus Nordhausen dem Kirchenvorstande und von diesem dem derzeitigen Pastor feierlich übergeben worden. Nach einer Besichtigung
des in jeder Hinsicht gut und tüchtig ausgeführten Baues, bei der manch anerkennendes Wort fiel, luden die Herren Kirchenvorsteher
mit ihren Damen den Architekten und den Pastor mit seiner Frau zu einer der Bedeutung des Tages entsprechenden kleinen Feier
ein. Das alte Pfarrhaus, das mit seinen 216 Jahren jedenfalls eines der ältesten Gebäude des Dorfes ist, wird nun abgebrochen
werden, da an seiner Stelle ein Schulerweiterungsbau aufgeführt werden muß, dessen Entwürfe inzwischen festgelegt
sind.« [3]
Das alte Pfarrhaus wurde im Sommer 1916 abgerissen. [4]
Abb. 1: Das alte Pfarrhaus im Jahr 1913 |
Abb. 2: Entwurf für das neue Pfarrhaus von Architekt Wilhelm Morgenstern aus dem Jahr 1910 (nicht ausgeführt) |
Abb. 3: Das neue Pfarrhaus im Jahr 1919 |
Abb. 4: Das Pfarrhaus im Jahr 2014 |
Das neue Pfarrhaus blieb über Jahrzehnte eines der modernsten Wohnhäuser in Niedersachswerfen. Der im Neubau bestehende
Wohnkomfort (Zentralheizung, Waschküche, Bad, zwei Spülclosets, Telefon) blieb für die Dorfbevölkerung noch Jahrzehnte
Wunschdenken und wurde schließlich erst nach dem politischen Umbruch von 1989/90 gesamtdeutsche Realität. Die Jahrzehnte
hinterließen jedoch auch am Pfarrhaus ihre Spuren: Ab Mitte des 20. Jahrhunderts gingen die Fensterladen Stück für Stück verloren,
und somit der ländliche Charakter des Hauses. In der DDR- Mangel- bzw. Planwirtschaft waren Holzzuteilungen für Fensterladen
nicht vorgesehen. So mußten die letzten am Haus verbliebenen Fensterladen in den 1950er Jahren abgenommen werden, um dem Haus
nach außen hin zumindest wieder ein einheitliches Bild zu geben. Bei der 1994/95 erfolgten Sanierung/Renovierung wurde über
eine Wiederherstellung der Westfassade im ursprünglichen Zustand nachgedacht, aus finanziellen Gründen aber nicht realisiert.
Bei der jüngsten Umgestaltung des Pfarrhauses, die vom Herbst 2011 bis Ostern 2012 erfolgte und bei der mehr finanzielle Mittel
zur Verfügung standen als 1994/95, wurde die Chance vertan, das 100jährige Pfarrhaus in seinen Originalzustand zurückzuversetzen.
Stattdessen wurden dem Zeitgeist entsprechend fast alle Mittel in die sog. ”energetische Sanierung” (= ein von
Lobbyisten der Baustoffindustrie der Politik abgerungenes Konjunkturprogramm) des Hauses investiert. Durch das „Einmauern”
der Fassade mit Dämmstoffplatten, dessen energetischer Nutzen fragwürdig ist [5], entstand quasi ein neues
Haus mit tiefen Fensterhöhlen ohne jeglichen Charakter, dessen Alter sich nur noch an der Dachform und Dachgröße erahnen läßt.
Da das Kellergeschoß nicht energetisch saniert wurde, darf bezweifelt werden, daß sich diese Investion für die Kirchengemeinde
einmal amortisiert. Zudem ist absehbar: Die Dämmstoffe von heute sind der Sondermüll von morgen. Dessen Entsorgung wird allein
von den Hauseigentümern zu finanzieren sein. Wo und wie dieser Dämmstoffmüll einmal entsorgt werden soll, wird bislang nicht
thematisiert. Hier drängen sich Parallelen zum Atommüll und dessen bislang ungeklärte Endlagerung auf.
Aber nicht nur aus architektonischer Sicht sind die Baumaßnahmen der Jahre 2011/12 bedauerlich, sondern besonders auch aus
zeitgeschichtlicher Perspektive: Die an der Westfront über dem Haupteingang angebrachte Inschrift »GOTT ALLEIN DIE EHRE!«
war beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ein Dorn im Auge, ja eine Provokation. Burkhart Steinwachs, jüngster Sohn des von
1950–1955 in Niedersachswerfen gewesenen Pastors Heinrich Steinwachs (1906–1993), erinnert sich in seinem Schreiben vom 27. Januar 2001
an den Verfasser: »Wir hatten unser Klassenzimmer im Querbau der Schule im ersten Stock und alle Schüler, wenn sie aus
dem Fenster blickten (...), schauten auf die Pfarrhausfassade. Unser Russischlehrer (...) reibte sich ideologisch an der Inschrift
der Pfarrhausfassade und setzte deren Entfernung durch. Man kam also mit Hammer und Meißel und begann, aus einem der Fenster gelehnt
und mit Gurt gesichert, zuerst das 'ALLEIN' abzuschlagen. Das war jedoch mühsamer als man dachte, und ohne ein Gerüst waren
die Kräfte bald verbraucht und man schaffte nur das 'ALLEI'. Lange stand auf der Fassade 'GOTT N DIE EHRE'; bald
wurde die Erlaubnis erwirkt, die Buchstaben wieder zu ersetzen.« Was zwei totalitäre Regime gegenüber der Kirchengemeinde
Niedersachswerfen nicht durchsetzen konnten, wurde 2011/12 von dieser selbst dem politisch-korrekten Dämmwahn der demokratischen
Neuzeit geopfert. Mit dem „Wegdämmen” der Hausinschrift »GOTT ALLEIN DIE EHRE!« hat die Kirchengemeinde
dem Zeitgeist ein Denkmal gesetzt. Doch die Inschrift befindet sich weiter am Pfarrhaus, konserviert hinter Zentimeter dicken
Dämmstoffplatten. So bleibt die Hoffnung und Möglichkeit, daß dem Pfarrhaus bei der nächsten Sanierung durch Rücknahme der
begangenen Bausünden sein Gesicht zurückgegeben wird. Die Bezeichnung „Pfarrhaus” wird dann Vergangenheit sein,
denn der ab 2021 für den Evangelischen Kirchenkreis Südharz angedachte Stellenplan sieht die Aufhebung der Pfarrstelle Niedersachswerfen vor.
Reinhard Glaß (2016)
[1] Pfarrarchiv Niedersachswerfen | Nr. 531/1: Pfarrhausbau (1913)
[2] Bote vom Südharz : Gemeindeblatt für die Grafschaft Hohnstein und angrenzende Gemeinden des Südharzes. 6. Jahrgang. 1913, Nr. 9, S. 68–69
[3] Bote vom Südharz : Gemeindeblatt für die Grafschaft Hohnstein und angrenzende Gemeinden des Südharzes. 7. Jahrgang. 1914, Nr. 7, S. 53
[4] Die alte Pfarre war 1698 erbaut und und stand auf dem Kirchhof, an der Harzstraße (B4) neben dem Rektorenhaus. Auf den Standort weist noch heute indirekt die Tatsache hin, daß die Numerierung der Harzstraße mit der Nummer 2 beginnt. Das Grundstück Harzstraße 1 - die alte Pfarre - blieb seit dem Abbruch im Sommer 1916 unbebaut. An trockenen Sommertagen zeichnet sich dort stellenweise der Gebäudeumriss im Rasen ab.
[5] Fehrenberg, Jens P.: Die Fragwürdigkeit immer dickerer Dämmschichten und die dringende Suche
nach sinnvolleren Einspareffekten. Hildesheim 2012
→ http://www.fehrenberg.de
Zeitungsartikel:
Quellen:
Bildnachweis: