Sanitätsrat Dr. med. Emil Kremser (1859–1947)
Leitender Arzt / Chefarzt
Schon Jahre vor seinem Tod wurden Legenden und Unwahrheiten zum Leben und Wirken von Dr. Kremser – unwissentlich bzw.
wissentlich – verbreitet. Die hier zitierten Beispiele sprechen für einen über Jahrzehnte gepflegten Personenkult und
Standesdünkel, aber auch für eine ebenso lange Ignoranz zeitgenössischer Quellen.
Legende 1: »Leitender Arzt dieser Heilanstalt war von ihrem Anfang an der
praktische Arzt zu Hamburg-Wandsbek Dr. Kremser, der auch den Platz auf dem sog. Kleinen Steierberg bei Sülzhayn
mit ausgesucht hatte.«
(Quelle:
Thüringer Gauzeitung vom 22. Juni 1939)
Anmerkung: In den Mittheilungen der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse |1a, 1b|
und den Lebenserinnerungen von Direktor Stieber |2| wird Emil Kremser im Zusammenhang mit der Auswahl des
Bauplatzes am 15. Oktober 1894 nicht erwähnt. Die biografischen Aufzeichnungen von Dr. Kremser |3| stützen
diese Aussage ebenfalls nicht.
Legende 2: »Sein besonderes Verdienst ist die Gründung der großen
Knappschaftsheilstätte in Sülzhayn (Südharz), an der er 29 Jahre Chefarzt war.«
(Quelle:
Der Öffentliche Gesundheitsdienst, 10. Jahrgang, Heft 9/10 vom Mai 1944 – Sonderdruck)
Anmerkung: Der Bau der Knappschaftsheilstätte geschah auf Anregung des Vorstandes der
Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse. Dieser bestand aus dem 1. Direktor, Paul Stieber, und dem
2. Direktor, Wilhelm Tribius. Am 9. Juni 1894 legten Stieber und Tribius dem Aufsichtsrat der Norddeutschen
Knappschafts-Pensionskasse den Plan zur Errichtung einer Heilstätte vor. Der Aufsichtsrat betraute mit der
weiteren Prüfung eine Kommission, die bereits am 7. September 1894 den Plan einstimmig zur Ausführung empfahl.
Am 29. Oktober 1895 stimmte die Generalversammlung der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse dem Antrag
des Aufsichtsrates zu, eine Heilstätte mit einer Kapazität von zunächst 50 Betten zu errichten. In der
Aufsichtsratssitzung vom 28. März 1896 und der Generalversammlung am 1. Mai 1896 wurde schließlich der Beschluß
gefasst, die Heilstätte mit einer Kapazität von 100 Betten auszuführen und eine Summe von 550.000 Mark
bewilligt |1b|.
Emil Kremser war an dem von der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse gefassten Entschluß zum Bau einer Heilstätte
weder direkt noch indirekt beteiligt, da er den maßgeblichen Gremien der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse nicht
angehörte.
Die Tätigkeit von Dr. Kremser an der Knappschaftsheilstätte Sülzhayn währte von 1897 bis 30. Juni 1924,
also 27 Jahre. Die Ernennung zum Chefarzt erfolgte erst im Jahr 1900. Zuvor wurde er seitens der
Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse als Oberarzt geführt.
Legende 3: »Der Bau der Knappschaftsheilstätte in der Form, in der Sie
sie alle kennen, entstand nach rein ärztlichen Gesichtspunkten. Entwürfe, Pläne und organisatorische Durchführung
fanden in Dr. Kremser einen Mann vor, der mit den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften und der Medizin
ausgerüstet war und seiner Zeit Richtung gebend vorausging.«
(Quelle:
Nachruf - Zum Tode Dr. Kremsers, gehalten am 12.12.1947 von Dr. med. Kurt Heinichen)
Anmerkung: Die bauliche Herstellung von Heilstätten hatte sich gesetzlichen Vorschriften
unterzuordnen, speziell der im November 1895 erlassenen »Polizei-Verordnung
über Anlage, Bau und Einrichtung von öffentlichen und Privat-Kranken-, Entbindungs- und Irren-Anstalten«,
und konnte nie das Ergebnis rein ärztlicher Vorstellungen sein.
Der Entwurf zur Knappschaftsheilstätte Sülzhayn wurde von dem halleschen Regierungsbaumeister Gustav Hasse
ausgearbeitet. Die Bauleitung lag in den Händen von Gustav Hasse und dem Architekten Stengel. Emil Kremser
gehörte der »Spezial-Kommission« zum Bau der Heilstätte nicht an, doch wurde ihm eine beratende
Funktion eingeräumt. Hierzu ist überliefert: »Es erwies sich als besonders wertvoll, daß der leitende Arzt
schon bei Ausstellung der Baupläne u. s. w. von Anfang an mitwirken konnte. Inzwischen arbeitete Herr
Regierungsbaumeister Hasse [...] den Plan der Heilstätte aus.« |1b|
Auf Bitten von Emil Kremser wurde noch in der Bauplanungsphase (1895/1896) dem Arztwohnhaus ein Privatsanatorium
angegliedert. Welchen Einfluß Dr. Kremser darüber hinaus auf das Planungs- und Baugeschehen hatte, ist den
Bauakten |4| nicht zu entnehmen.
Legende 4: »Die Heilstätte erhielt die Goldene Medaille, ebenso ihr Schöpfer,
Dr. Kremser.«
(Quelle:
Nachruf - Zum Tode Dr. Kremsers, gehalten am 12.12.1947 von Dr. med. Kurt Heinichen)
Anmerkung: »Schöpfer« der Knappschaftsheilstätte, sofern man diesen Begriff verwenden
will, waren der Vorstand der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse, die Direktoren Stieber und Tribius,
sowie der Regierungsbaumeister Gustav Hasse.
Die im Jahr 1900 auf der Weltausstellung in Paris errungene »Goldene Medaille« war keine
Einzelauszeichnung für die Knappschaftsheilstätte Sülzhayn bzw. deren Chefarzt Dr. Emil Kremser, sondern
eine Auszeichnung für alle 39 deutschen Lungenheilstätten, die vom Kaiserlichen Gesundheitsamt auf der
Sammelausstellung für Hygiene in Paris gezeigt wurden.
Der 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis (USA) errungene »Große Preis« war ebenfalls eine
gemeinsame Auszeichnung für insgesamt 61 vom Kaiserlichen Gesundheitsamt gezeigte deutsche Lungenheilstätten.
Legende 5a: »Sie haben erfolgreich mitgewirkt an dem Bau dieser und anderer deutschen
und außerdeutschen Anstalten. Dann aber gliederten Sie sich auch noch eine Privatanstalt an .....«
(Quelle:
Festrede zur Abschiedsfeier des Herrn Sanitätsrat Dr. med. E. Kremser, gehalten am 16. März 1936
von Dr. med. Stein)
Legende 5b: »Mit der Zeit reichte diese Anstalt für die dauernd zunehmende Anzahl der
Anträge gar nicht mehr aus. Kremser gliederte ihr noch eine Privatanstalt an ...«
(Quelle:
Thüringer Gauzeitung vom 22. Juni 1939)
Anmerkung: Die Errichtung einer Privatanstalt neben der Knappschaftsheilstätte wurde bereits in der
Bauplanungsphase (1895/1896) auf Bitten von Emil Kremser berücksichtigt, um ihm die »Gelegenheit zu geben,
auch anderes Krankenmaterial, als nur Bergleute, zu behandeln« |5|. Das Privatsanatorium war kein
Erweiterungsprojekt oder Ausweichquartier für Patienten der Knappschaftsheilstätte aufgrund einer »dauernd
zunehmenden Anzahl von Anträgen«. In der Knappschaftsheilstätte wurden ausschließlich Versicherte der
Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse behandelt. Das angegliederte Privatsanatorium blieb »Selbstzahlern«
der »gebildeten wohlhabenden Stände« |6| vorbehalten. Die deutsche Sprache kennt dafür inzwischen
den Begriff »Zwei-Klassen-Medizin«.
Von einer eigenmächtigen Angliederung, wie die oben zitierten Passagen suggerieren, kann keine Rede sein. Alle Gebäude
der Knappschaftsheilstätte Sülzhayn waren Eigentum der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse. Das Arztwohnhaus war
eine Dienstwohnung. Die Bezeichnung »Privatanstalt« bezog sich nicht auf die Eigentumsverhältnisse,
sondern auf das Patientengut.
- |1a| Geschäftsbericht des Vorstandes der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse für das Jahr 1894.
Halle 1895, S. 4
|1b| Mitteilungen der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse zu Halle an der Saale. Halle 1891–1918 |
Nr. 07/1916, S. 27
- |2| Lebenserinnerungen von Paul Stieber, Direktor der Norddeutschen Knappschafts-Pensionskasse zu Halle/Saale,
vom März 1943; veröffentlicht in:
Allgemeiner Harz-Berg-Kalender 2002 (2001), S. 137–141 (I)
Allgemeiner Harz-Berg-Kalender 2003 (2002), S. 119–123 (II)
- |3| Kreisarchiv Nordhausen/Harz | Sülzhayn, Signatur J A 248: Wie die Heilstätte Sülzhayn entstand. Broschüre (1939)
- |4| Kreisarchiv Nordhausen/Harz | Sülzhayn, Signatur J A 159: Knappschafts-Heilstätte (1896–1940)
- |5| Kremser, Emil: Die Knappschafts-Heilstätte Sülzhayn : Festschrift aus Anlass des
zehnjährigen Betriebes 1898–1908. Ellrich 1912, S. 25
- |6| Sanitätsrat Dr. Kremsers Sanatorium für Leichtlungenkranke in Sülzhayn am Südharz. Kurprospekt (um 1910)